Sprachtechnologie im täglichen Leben (2)

heute: Mehrdeutigkeiten in natürlicher Sprache

Mehrdeutigkeiten – also Wörter, Satzteile oder Satzstrukturen, die mehr als eine Bedeutung haben können – sind ein echtes Problem für alle, die natürliche Sprache verarbeiten wollen. Denn Mehrdeutigkeiten treten nicht nur, wie beim letzten Mal gesehen, in verstümmelten Sätzen oder Stichworten auf. Ganze Sätze können, obwohl sie grammatikalisch wunderbares Deutsch sind, mehrere Bedeutungen haben.

1. Der Senat plant offenbar noch in der kommenden Woche eine Gesetzesinitiative gegen Kampfhunde im Abgeordnetenhaus.[1]

Dieser Satz ist mehrdeutig, auch wenn wir das allenfalls humoristisch wahrnehmen (das langweilige Lehrbuchbeispiel für diese Art Mehrdeutigkeit ist Der Mann sieht den Jungen mit dem Fernglas). Die Mehrdeutigkeit besteht natürlich darin, dass wir nicht wissen, ob die Gesetzesinitiative sich gegen Kampfhunde im Abgeordnetenhaus richtet oder ob sich die Initiative im Abgeordnetenhaus gegen Kampfhunde richtet.

2. Die Gießkannen kaufe ich dir nicht ab.
3. Die Geschichte kaufe ich dir nicht ab.

Sätze 2 und 3 sind insgesamt freilich nicht mehrdeutig, aber wir sehen schon, dass “kaufe” hier mit völlig unterschiedlichen Bedeutungen benutzt wird. Insofern ist “abkaufen” ohne Kontext ebenfalls mehrdeutig.

4. In der Zeitung steht, dass der Lieferant von Gammelfleisch erst gestern erfuhr.

Der ein oder andere Leser mag über sen Satz gestolpert sein, zwischendurch ist er nämlich ebenfalls mehrdeutig. “Lieferant von XY” ist eine sehr häufig vorkommende Wendung, so dass Menschen, wenn sie den Satz lesen, erst denken, dass der Lieferant eben Gammelfleisch geliefert hätte. Am Ende des Satzes lesen wir “erfuhr” und stellen fest, dass “von Gammelfleisch” zu “erfuhr” gehören muss, und interpretieren den Satz neu.

Nach diesen paar Beispielen – wenn man darauf achtet, findet man auf jeder Zeitungsseite weitere – sollte klar sein, dass Mehrdeutigkeiten häufig vorkommen und dass sie auf verschiedenen Ebenen auftreten. Die Mehrdeutigkeit in z. B. 2./3. ist eine ganz andere, als die in 1.

Der Linguist spricht in 2./3. von lexikalischen Mehrdeutigkeiten, weil es eine Frage des Lexikons der Sprache ist. Im Zuge unseres Sprachlernens haben wir gelernt, dass “abkaufen” in unterschiedlichen Bedeutungen genutzt werden kann. Denkt man eine Weile darüber nach, lassen sich für die meisten Wörter alternative Lesarten finden: Menü, Depot, atmen, geben, Führer, Test, Bombe, …

Die Mehrdeutigkeit in 4. ist im Grunde die gleiche wie in 1., mit dem Unterschied, dass sie in 4. noch innerhalb des Satzes aufgelöst wird und in 1. nicht. Im Satz 4 muss ich nichts über Gammelfleisch, Lieferanten oder Zeitungen wissen, um die Mehrdeutigkeit aufzulösen, es reicht zu wissen, dass das Verb “erfahren” immer etwas braucht, wovon erfahren wird (Ich erfahre von dem Skandal. ist ein korrekter Satz, *Ich erfahre. dagegen nicht[2]). Es handelt sich demgemäß um eine syntaktische Mehrdeutigkeit, weil sie auf Ebene der Syntax (vulgo: der Grammatik) auftritt. In Satz 1 reicht Wissen über Grammatik nicht aus, um den Satz eindeutig zu machen. Ohne Wissen über Abgeordnete, Kampfhunde und so weiter (sog. Weltwissen), kommt man da nicht weiter. Die Mehrdeutigkeit des Satzes lässt sich nur auf der Ebene der Bedeutung, des eigentlichen Inhaltes (Semantik) des Satzes auflösen.

Und weil ich Syntax jetzt schon angerissen habe, wird es darum beim nächsten Mal gehen. Wie zerlege ich Sätze in syntaktische Strukturen? Was macht eine Grammatikprüfung, bzw. was sollte sie machen?

Anmerkungen

[1]: Der Tagesspiegel vom 5. Juli 2000

[2]: In linguistischer Literatur werden ungrammatikalische Sätze mit Sternchen gekennzeichnet, damit es keine Verwirrung gibt. Ich behalte das hier mal bei, weil ich denke, dass es hilfreich ist.

October 7th, 2006 Kategorie: Lehrstück

4 Comments Add your own

  • 1. 020200  |  October 8th, 2006 at 1:11 pm

    Hmm, wo ist denn die Mehrdeutigkeit in “atmen”?

  • 2. Nils Reiter  |  October 8th, 2006 at 2:46 pm

    Zum Beispiel hier. Das Hamburger Abendblatt zitiert jemanden, der über eine alte Villa redet:

    Das würdevolle Haus an der Alster atme Geschichte, sei etwas Besonderes.

    Geschichte zu atmen ist nicht sonderlich verbreitet, das gebe ich zu :-)

    Man könnte sich auch darüber streiten, ob es das gleiche ist, ob ein Wein oder ein Lebewesen atmet.

  • 3. Sprechtakel&hellip  |  October 14th, 2006 at 6:33 pm

    Sprechtäkeli: Mit Worten die Welt ins Jenseits bomben…

    Linguistisch ist diese Woche mal wieder die Post abgegangen:
    Die UNO versucht sich auf eine Resolution zu einigen, um auf den erfolgreichen, misslungenen oder nur behaupteten Atomwaffentest in Nordkorea zu reagieren. Bush meint dazu aber:Die USA arbei…

  • 4. The original hard bloggin&hellip  |  October 16th, 2006 at 10:47 am

    […] Diesen Satz kennen wir vom letzten Mal. Seine Mehrdeutigkeit kann am Ende aufgelöst werden, weil das Verb “erfahren” (die Abbildung von “erfuhr” [Präteritum] auf die Zitierform ist übrigens Teil der morphologischen Analyse) ein Objekt verlangt. Das, von dem erfahren wird. Dieses Objekt ist “Gammelfleisch”, wodurch es nicht mehr als Modifikator von “Lieferant” zur Verfügung steht. […]

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